Ford Scorpio 2.3i 16V 1997: Kölns größter Design-Flop!

Der Ford Scorpio sollte dem Granada nachfolgen und die treue Kundschaft in ein neues Jahrzehnt führen. Was der ersten Serie noch halbwegs gelang, vergeigte der „Scorpio 95“ mit Anlauf. Aber nicht nur sein Design hob ihn in den Olymp der gewöhnungsbedürftigsten Nachkriegsautos der Geschichte. Auch ein paar „Macken“ verhindern bis heute, dass die wenigen verbliebenen Exemplare geliebt oder weggestellt werden.
- Bauzeitraum: 1994 – 1998
- Karosserien: Limousine, Kombi
- Benzinmotoren: 2,0 Liter – 2,9 Liter
- Dieselmotoren: 2,5 Liter
- Tankinhalt: 70 Liter
- Stückzahl: ca. 98.500
- Preise 2021: 1.000 € – 4.000 €
Granada-Nachfolger mit Geschmacksverirrung
Der Ford-Granada-Fahrer rauchte filterlos, hatte einen Cordhut auf dem schütteren Haar und schwor auf robuste Großserientechnik in Form der Limousine und des Kombis (der bei Ford traditionell Turnier heißt). Granadas gingen weg wie geschnitten Brot und als 1985 der Scorpio als Nachfolger mit längs eingebautem Frontmotor und Heckantrieb vor die Kameras rollte, trauten Meier, Müller, Schmidt und Schulze ihren Augen nicht. Ein Fließheck in der gehobenen Mittelklasse? Nee, wollten sie nicht.
Erst 1989 kam die Stufenhecklimousine und erst 1992 der Turnier! Und als wäre das nicht Versäumnis genug, präsentierten die Kölner nach einer durchkoksten Nacht im Jahr 1994 den „Scorpio 95“. Amerikanisches Retro-Design, immerhin als Stufenheck und Turnier. Und das war’s dann auch mit dem Eingehen auf Kundenwünsche.


Amerikanisches Design auf Koks
Der Ford Scorpio MK II fuhr dermaßen zielstrebig am Zeitgeist und dem Geschmack der Kunden vorbei, dass viele es gar nicht so recht glauben konnten. Von vorn ein glupschiges Karpfenmaul, von hinten ein Lincoln-mäßiges Leuchtenband mit breiter Chromleiste. Alles war irgendwie rund, elliptisch und anders, als die meisten es ertragen konnten.

Und innen? Im Inneren glupscht einem ein mit Plastikholz beplanktes Armaturenbrett entgegen. Das Raumgefühl und das Platzangebot sind episch, die Polster- oder Ledersessel bequemer als in Omas Wohnzimmer (und oft sogar beheizt) und der Gesamtkom-Ford lässt quasi keine Wünsche offen.
Käffchen und Kippchen
Viele Gebrauchtwagen haben gar keine Cupholder und nur winzig kleine Aschenbecher. Deshalb checke ich (als Nichtraucher) in dieser Serie auch immer die Abstellmöglichkeiten für Coladosen und Kaffeetassen sowie die vom Fahrersitz aus erreichbaren Aschekapazitäten.

Im Ford Scorpio 95 klappt mir ein grün illuminierter, holzverkleideter Aschenbecher aus der Mittelkonsole entgegen. Das lädt zu einer dampfenden Handelsgold ein! Aber nicht in den Wählhebel aschen, die Elektrik ist schon fehlerhaft genug. Getränkehalter? Gibt es keine.

Wer sich überwinden konnte und einmal einen Ford Scorpio durch den Alltag bewegte, wird voll des Lobes sein. Das Fahrgefühl wirklich erhaben und leise, die Ausstattung lässt keine Wünsche offen. Elektrische Fensterheber und Seitenspiegel, ABS und Servolenkung, höhenverstellbarer Fahrersitz, Fahrer- und Beifahrerairbag, Zentralverriegelung und die legendäre beheizbare Frontscheibe. Die heute aber meistens defekt ist. Fünf Personen und eine Menge Gepäck finden in dem großen Wagen reichlich bequemen Platz und von innen muss man ja auch das Äußere nicht sehen.
Motoren ohne Wenn, aber mit Aber
Ford ist seit Dekaden bekannt für seine genügsamen und robusten Vier- und Sechszylinder. Die Vierzylinder sind erstaunlich durchzugsstark, der 2.3 Liter hat aber einen Haken: Der Ansaugkrümmer ist aus Kunststoff, und das Thermostat nebst Zu- und Ablauf sitzt da auch drin. Heiß, kalt, heiß, kalt – nach 20 Jahren ist es vorbei mit der Haltbarkeit und das Kühlwasser läuft spontan und großzügig raus. Das lässt sich auch nicht kleben.

Bastler rüsten auf den metallenen Krümmer vom 2.0 um oder kaufen das noch erhältliche Neuteil für 500 €. Wer es zügig mag, greift zum 2.9 Liter V6, den es auch als 24 V Cosworth mit 207 Pferden gibt. Einen satten 2.5 Liter Turbodiesel hatte man ebenfalls im Angebot. Und dann sind da noch diese Kabelbäume …
Warnlampen direkt aus der Hölle
Ford setzte in den 90er Jahren, wie andere Hersteller auch, auf die Recyclingfähigkeit vieler Komponenten. Umweltfreundliche Kunststoffe, trinkbarer Lack und Kabelbäume, deren Kunststoff sich später gut kompostieren lässt. „Später“, das ist heute. Und die Selbstkompostierung der beiden Hauptkabelbäume eines Ford Scorpio 95 ist in vollem Gange, unabhängig vom lückenlosen Scheckheft oder dem Pflegezustand.

Von zwei dicken Hauptsteckern im Motorraum (Ihr erinnert Euch – warm, kalt, warm, kalt …) versorgt ein armdicker Strang das Motormanagement und ein weiterer die Getriebe-Steuergeräte und alles weiter hinten Gelegene. Nach über 20 Jahren zerfallen hier bei der kleinsten Bewegung sämtliche Isolierungen zu Staub und nackte Kupferseelen liegen Seite an Seite. Die Bandbreite geht von unmotiviert leuchtenden Warnlampen über Ausfälle bis hin zur kompletten Havarie. Oder die Automatik schaltet nicht mehr in die 4. Fahrstufe. Man kann dazu eine klare Aussage treffen: Die müssen ersetzt werden. Bitte schreibt mit: In einem Ford Scorpio 95 MÜSSEN die Kabelbäume ersetzt werden. Sie MÜSSEN. Nerve ich? Ersetzt die Kabelbäume! Es gibt sie übrigens nicht mehr zu kaufen, sie müssen angefertigt werden.

Exotischer als jeder Ferrari
Das Design schreckt Euch nicht ab? Ihr habt alle elektrischen Leiter in einer Limousine der gehobenen Mittelklasse gegen neue ersetzt? Dann sucht bitte noch nach Rost, wobei hier tatsächlich der Pflegezustand eine Rolle spielt. Minderwertige Lacke der 90er Jahre lassen den Wagen mitten auf dem Dach rosten. Oder in den Hauptträgern, von innen nach außen. An den Radläufen und am Unterboden, unter dem Teppich, wo nichts scheuert oder rubbelt. Einfach so.

Alles an dieser Geschichte klingt nach: Finger weg? Ja. Aber ich bin ein Jahr lang selbst so einen Kahn gefahren und habe ihn geliebt. Eben weil alle ihn so schlimm finden. Das Design ist seltsam, aber in sich absolut stimmig. Der Komfort ist wirklich sagenhaft. Und wenn man Ansaugkrümmer, Kabelbäume und Rost besiegt hat, fährt man eins der exotischsten Autos in Deutschland. Eben genau wegen dieser Macken. Gebt dem „Glupschi“ eine Chance, aber stellt Euch auf harte Zeiten ein 😀
Vorteile | Auffälliges Design Sagenhafter Komfort Viel Platz im Inneren und im Kofferraum Sehr gute Ausstattungen Günstige Teilepreise |
Nachteile | Reißende Kunststoff-Ansaugkrümmer beim 2.3 Poröse Hauptkabelbäume bei allen Modellen Rost, teils an völlig absurden Stellen Fehlerhafte Automatikgetriebe Defekte Vorwiderstände der Klimaanlage Häufige Elektrikprobleme (wegen der Leitungen) |
Fahrgefühl | Wenn er funktioniert, gleitet ein Scorpio 95 kommod dahin wie eine echte Oberklasse-Limousine. Plüschige Sessel oder duftendes Leder, Raumgefühl ohne Ende und eine Menge Komfort-Gadgets machen das Reisen im Scorpio mehr als angenehm. Der Turnier schluckt zudem eine komplette Studentenbude mit Links. Und der Cossi hat fast so viel Dampf wie ein Rennwagen! |
Preise | 1.000 € – 4.000 € |
FAQ
Grundsätzlich ist der Ford Scorpio 95 ein zuverlässiges Alltagsauto, das viel Platz und vor allem viel Komfort bietet. Voraussetzung für einen sorgenfreien Alltag sind beim 2.3 Liter ein neuer Kunststoff-Ansaugkrümmer (und kein gebrauchter, geklebter), nachweislich neu gewickelte Hauptkabelbäume (Flickwerk macht keinen Sinn, alle, aber wirklich ALLE Ummantelungen zerbröseln zu Staub) und eine mehr als großzügige Nachkonservierung aller Bleche. Dann kann man die Limousine sorgenfrei fahren. Aber wer betreibt schon so einen Aufwand bei den kleinen Preisen?
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Es gibt nicht mehr viele Exemplare von dieser seltenen Limousine. Dementsprechend ist das Ersatzteilangebot knapp. Normale Verschleißteile wie die Bremsen oder die Nebenaggregate bekommt Ihr über DAPARTO für kleines Geld. Wasserkühler oder die Abgasanlage bedürfen da schon etwas mehr investigativer Arbeit. Vorwiderstände des Kühlgebläses (Klimaanlage) gibt es keine mehr, sie sind eigentlich immer kaputt und können nicht repariert werden. Aber die Keller der Vorbesitzer sind noch voll, es lohnt ein Blick ins Netz. Und noch gibt es komplette Schlachtfahrzeuge für ein paar Hunderter. Es könnte also schlimmer sein.
Ersatzteile für den Ford Scorpio 95 »
Diese Frage erübrigt sich. Der letzte große deutsche Ford mit längs eingebautem Motor und Heckantrieb ist das schrägste Modell, das jemals in Köln gebaut wurde. Er fällt im Straßenverkehr sofort auf. Auf der Autobahn werden begeisterte Menschen mit ihren Autos langsamer und heben die Daumen. Manchmal kommen auch mitleidige Blicke. Es bedarf eines gewissen Selbstbewusstseins, einen Scorpio 95 zu fahren. Aber das braucht es bei einer Corvette oder einem Lamborghini auch. Nur … anders.
Ersatzteile für den Ford Scorpio 95 »
Den 2.0 DOHC Benziner gibt es mit 8 oder 16 Ventilen, er gilt als unkompliziertester Vertreter. Anders als der kräftigere 2.3 Liter 16V hat der auch keinen Ansaugkrümmer aus Kunststoff, der sich heute im Kühlwasserstrom selbst auflöst. Grundsätzlich leiden alle Motoren an den porösen Kabelbäumen und fallen aus oder laufen gern mit Aussetzern. Die elegante Ausbaustufe, also der „echte“ große Ford hat den 2.9 Liter V6 drin oder gar die Cosworth Variante mit 207 PS. Das ist extra cool, extra selten, extra durstig und sogar ein bisschen teurer als die anderen.
Der Ford Scorpio ist ein Kind der 90er und genau wie einige Modelle von Mercedes-Benz oder Opel hat er seine typischen Roststellen. Nur sind sie bei schlecht gepflegten oder im Winter bei Feuchtigkeit und Salz gefahrenen Exemplaren deutlicher zu finden. Von den Radläufen über die Schweller bis zu den massiven Rahmenträgern kann ein Ford Scorpio 95 quasi überall rosten. Finger weg von nachgerüsteten Zierleisten an den Radläufen. Ergattert Ihr ein Exemplar mit wenig Rost, macht den weg und ballert ein paar Kilo Wachs in die Hohlräume und auf den Unterboden. Das Auto wird bald seltener sein als die meisten anderen Oldtimer.
Jens Tanz – der Sandmann

Jens spielt seit seinem 16. Lebensjahr mit alten und nicht ganz so alten Autos im Maßstab 1:1. Diese Leidenschaft machte er nach ein paar Irrwegen in die Physik und die Elektrotechnik zum Beruf und schrieb Artikel und Kolumnen für AutoBILD, AutoBILD Klassik, GRIP – Das Motormagazin, Spiegel Online, das Drivestylemagazin TRÄUME WAGEN und die AUTO Classic. Heute betreut der Kieler über die Agentur elbkind reply die Social-Media-Kanäle vom Mercedes-Benz Museum in Stuttgart und führt mit “Sandmanns Welt” das etwas andere Tagebuch eines patchworkenden Autofahrers.
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